Andrea Nahles Rede im Bundestag 27.11.2008:

Veröffentlicht in Aktuell

"Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle fest: Die Grünen geben das Ziel der Vollbeschäftigung auf. Wir liegen jetzt bei 2,9 Millionen Arbeitslosen. Ich frage die Grünen: Ab wann stellen Sie denn dann die aktive Arbeitsmarktförderung ein? Ab 2,5 Millionen? Ab 2 Millionen? Wo ist denn dann der Punkt erreicht, an dem unser Bemühen nicht mehr darauf gerichtet sein muss, dass jeder Arbeitslose eine Zukunft mit Arbeit bekommt? Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln, wenn Sie hier ankündigen, dass für die Grünen das Ziel der Vollbeschäftigung nicht mehr das zentrale Momentum ist.

(Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir machen nur keine falschen Versprechungen! Darum geht es!)
Wenn das nicht mehr das zentrale Momentum ist, dann stellen Sie im Grunde genommen die insgesamt 6 Milliarden Euro, die für Eingliederungsmaßnahmen vorgesehen sind, infrage, und das werden wir niemals akzeptieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Wir befinden uns in einer Phase, in der wir noch beweisen können, dass unsere Bemühungen teilweise sogar unsere gemeinsamen Bemühungen; deswegen bin ich so verwundert darauf gerichtet sind, dass wir niemanden aufgeben. Arbeit first. Wir wollen unsere Arbeitsmarktpolitik ganz klar auf Aktivierung ausrichten. Wir parken nicht mehr Millionen von Sozialhilfeempfängern und geben ihnen keine Chance auf aktive Arbeitsmarktvermittlung. Das haben wir doch überwunden. Ich dachte, das wäre unser gemeinsames Ziel. Wir wollen, dass jeder, der gesund ist, die Chance hat, Arbeit zu bekommen.
Mit 28 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, mit einem überproportionalen Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit und mit den im Wesentlichen hervorragenden Zahlen bezüglich des Ausbildungsmarktes haben wir sehr gut unter Beweis gestellt, dass eine richtige Strukturreform, kombiniert mit sehr guter Arbeit der BA-Mitarbeiter, am Ende entsprechende Wirkung zeigt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Wir können jedenfalls stolz darauf sein. Wenn die Grünen nicht mehr stolz auf ihre Arbeit sind, die sie acht Jahre lang gemeinsam mit uns gemacht haben, dann bedauere ich das sehr.
(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Dafür müssen Sie sich nicht schämen, Frau Nahles!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin Nahles, die Frau Kollegin Pothmer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ohne Schirm! Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die brauchen wir heute nicht mehr!)
Andrea Nahles (SPD):
Nein, es tut mir wirklich leid; dafür habe ich jetzt keine Zeit.
(Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist kein Stil!)
Wir haben immer gesagt das sollte man an dieser Stelle betonen : Fordern und Fördern. Ich will vor dem Hintergrund der Bankenkrise aber auch sagen: Die Aufforderung, Fordern und Fördern, gilt nicht nur in Bezug auf Arbeitslose. Fordern und Fördern heißt für mich auch, dass diejenigen, die in den letzten Jahren die Mitbestimmung massiv angeschossen haben, erkennen, dass es ein eingebautes Korrektiv gegen Überhitzung, gegen kurzfristige Renditeorientierungen und miserable Unternehmenskultur gibt, und das ist die Mitbestimmung. Deswegen sollten wir an dieser Stelle von denen, die von uns jetzt mit Steuergeldern finanzierte Sicherheiten bekommen haben, fordern, dass sie in Zukunft das automatische Korrektiv der Mitbestimmung nicht mehr infrage stellen, sondern es mit uns zusammen weiter ausbauen.
(Beifall bei der SPD)
Ich habe mich schon gefragt: Wann? Dann habe ich mich gefragt: Wer? Ich hatte auf Herrn Niebel gehofft.
(Dirk Niebel (FDP): Was habe ich gemacht?)
Aber nein, es war der Sachverständigenrat, der, kaum hörten wir etwas über Krise, wieder einmal auf die Idee gekommen ist, dass das Wichtigste
(Dirk Niebel (FDP): Dass Sie auf mich hoffen, macht mir Sorge!)
Herr Niebel, jetzt warten Sie doch einmal ab, was ich meine. Es ging um die Frage: Wer bringt als Erstes den Kündigungsschutz als Hauptursache für die Krise ins Spiel? Wie gesagt, da hatte ich an Sie gedacht. Aber Sie haben mich enttäuscht, Herr Niebel.
(Dirk Niebel (FDP): Das tut mir leid!)
Es war in diesem Falle der Sachverständigenrat. Der Sachverständigenrat hat auch eines nicht verstanden. Der Sachverständigenrat hat nicht verstanden, dass es in diesen Tagen und Wochen auch um eine Vertrauenskrise geht die wird noch lange anhalten und dass man in diesem Land Vertrauen nur schaffen kann, wenn es auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die abhängig Beschäftigten in dieser schwierigen Situation ein Stück Perspektive und Sicherheit gibt. Deswegen wird es mit uns auch kein weiteres Aufweichen und Lockern des Kündigungsschutzes geben, und zwar aus wohlverstandenen ökonomischen Gründen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir merken doch auch, wer jetzt wieder der Erste ist, der dran glauben muss. Das sind die, die ohnehin schon prekär beschäftigt sind, nämlich die Leiharbeiter. Wir kämpfen gerade darum, dass auch sie einen Mindestlohn erhalten; darüber beraten wir heute noch. Auch diejenigen, die wir immer wieder ein Stück weit unter Druck setzen, müssen von uns die Hand gereicht bekommen. Auch sie müssen von uns ein Signal bekommen, dass uns ihr Schicksal nicht egal ist. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir es angehen, auch Leiharbeitern den Bezug von Kurzarbeitergeld zu ermöglichen. Herr Fuchtel hat das schon angesprochen. Ich freue mich auch, dass das vom Koalitionspartner in vollem Umfang mit unterstützt wird.
Das ist ein Signal. Dann kommt noch der Mindestlohn,
(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Nein!)
und dann haben auch diejenigen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, von der guten Politik in Deutschland gespürt.
(Beifall bei der SPD)
Wir müssen uns auch darüber klar werden, dass wir uns angesichts der Anstrengungen, die wir mit dem Konjunkturpaket unternommen haben, vorsichtig verhalten sollten. Wir sollten uns auch keine eigenen Denkblockaden auferlegen, welche zusätzlichen Handlungsnotwendigkeiten die nächsten Monate vielleicht ergeben. Ich sage das bewusst nicht als Haushälterin, sondern als Arbeitsmarktpolitikerin. Wir haben dabei ohnehin manchmal einen strukturellen Konflikt. Das verstehe ich, und das ist nicht mein Punkt.
Tatsache ist aber, dass es nicht ums Geldverballern geht, sondern darum, präventiv zu verhindern, dass Beschäftigung weiter ins Rutschen kommt. Da den jüngsten Zahlen der BA zufolge die Zahl der frühzeitig arbeitslos Gemeldeten wir haben das seinerzeit gesetzlich geregelt, damit wir frühzeitig etwas für diese Menschen tun können deutlich gestiegen ist, bin ich sehr froh darüber, dass wir mit den 1 000 zusätzlichen Vermittlerstellen nach dem SGB III, den 1 000 zusätzlichen Helfershelfern, die entsprechende Wege eröffnen können, diesem zusätzlichen Problem begegnen können. Ich sage ein herzliches Dankeschön dafür, dass das im Rahmen des Konjunkturpaketes so kurzfristig in den Haushalt aufgenommen werden konnte.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich bin im Übrigen der Auffassung, dass wir insgesamt vorausschauend agieren und agieren müssen, und zwar mit Maßnahmen, die jetzt noch dringender geworden sind, zum Beispiel die Einführung von Mindestlöhnen. Herr Fricke hat sich im Ticker vom 20. November darüber beklagt, dass die SPD die Mehrausgaben beim Arbeitslosengeld II nicht berücksichtige. Aber wenn sich Herr Fricke ernsthaft Sorgen um das möglicherweise steigende Arbeitslosengeld II macht, dann habe ich eine geniale Idee: Werfen Sie bei der FDP endlich die ideologischen Blockaden in Bezug auf Mindestlöhne über Bord.
(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Das Parlament kann die Mindestlöhne ohne die FDP beschließen! Dafür brauchen wir die FDP nicht!)
Damit würden wir nämlich darauf hat eben schon meine Kollegin hingewiesen bei den Aufstockern 1,5 Milliarden Euro sparen. Das wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, auch aus haushalterischer Sicht.
(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): So einfach ist es leider nicht! - Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Setzt Euch in der Koalition durch!)
Insofern ist auch der Mindestlohn an dieser Stelle von großer Bedeutung.
(Beifall bei der SPD)
Ich will mit der Feststellung schließen, dass wir in der Lage sind, die auf uns zukommenden Probleme zu bewältigen. Ich bin insofern optimistisch. Wir machen uns aber auch nicht vor, dass es sich nur um eine kurzfristige Eintrübung handelt; wir müssen uns auf eine Strecke einstellen, deren Bewältigung nicht ganz einfach werden wird. Ich bin aber zuversichtlich. Es gibt ein sehr schönes Zitat des französischen Philosophen Jacques Derrida. Er hat sinngemäß gesagt: Die Katastrophe ist nahe, doch die Apokalypse ist von langer Dauer. Darüber sollte man nachdenken.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
.....
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin Nahles, bitte.
Andrea Nahles (SPD):
Ich habe jahrelang Germanistik studiert und sogar einen Abschluss gemacht.
(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))
Deswegen möchte ich wissen, wie ich folgenden Satz zu interpretieren habe: „Herr Scholz, ..., hören Sie auf, über Vollbeschäftigung zu schwadronieren!“ Ich interpretiere diesen Satz so: Die Grünen fordern den Arbeitsminister auf, das Ziel der Vollbeschäftigung aufzugeben. Vielleicht muss ich mir aber noch ein paar Semester grüne Sprachphilosophie gönnen.
Frau Pothmer, die ganze Zeit schwadronieren Sie von einem bedarfsunabhängigen Bürgergeld, oder wie auch immer das heißen mag.
(Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich? Nie!)
Viele in Ihrer Partei machen hier große Avancen. Frau Pothmer, was halten Sie von Folgendem: Wir haben, obwohl uns die Haushälter das Leben schwer gemacht haben, den Eingliederungstitel bei 10 Milliarden Euro gehalten. Mit konkreten Eingliederungsmaßnahmen geben wir 100 000 Menschen mit großen Vermittlungshemmnissen eine Jobperspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Privatwirtschaft oder bei öffentlichen Arbeitgebern. Soll ich Ihnen jetzt im Ernst unseren gesamten arbeitsmarktpolitischen Katalog vortragen, über den wir im Ausschuss gemeinsam diskutiert haben?
(Dirk Niebel (FDP): Dafür reichen die drei Minuten! Das können Sie machen!)
Ich glaube, das muss ich nicht. Sie legen in Ihren Reden zu viel Wert auf Provokation. Ich werde in Zukunft einfach mehr weghören. Dann müssen wir uns nicht streiten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU Dirk Niebel (FDP): Geht doch Kaffee trinken! - Abg. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meldet sich zur Erwiderung)

 
 

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